Chemnitz 2030 – Eine Utopie oder ein normaler Shopping-Ausflug?

Es ist Samstag Mittag. Ich benötige eine neue Stehlampe, am besten mit Ladefunktion für meine Kleinstgeräte. Die Onlinesuche zeigt mir 3 passende Leuchten an, eine davon ist in meiner IKEA-Boutique verfügbar.
Auf meiner Smartwatch tippe ich auf den Knopf, der aussieht wie eine Autosilhouette. Es kommt eine Meldung zurück: „Ein Fahrzeug kann in 10 Minuten an ihrer Zuhause-Parkposition stehen. Welches Ziel haben Sie?“
Ich sage ich will ins Stadtzentrum. Ein freundliches grünes Häkchen erscheint und ein Timer von 9 Minuten und 40 Sekunden startet.
Ich mache mich in Ruhe fertig und gehe nach unten. Das Fahrzeug steht da. Ich halte den Arm mit der Smartwatch kurz an die Tür des Fahrzeuges. Sie öffnet sich.
Ich steige ein und bemerke die Gesellschaft. Es gibt keine eindeutige Fahrerposition mehr und neben mir sitzt eine Person mit dem gleichen Ziel. Der Sitzabstand ist großzügig und respektiert die Privatsphäre. Das Fahrgefühl ist deutlich angenehmer als in Bussen und auch nicht so privat wie im eigenen Fahrzeug. Ich nutze diesen Service seit 2 Jahren. Ich bin Abonnent dieses monatlich kündbaren Carsharing-Service und habe mich wegen der einfachen Bedienung der App und der günstigen Flatrate von nur 30€ dafür entschieden. Als innerstädtischer Nutzer sind meine Fahrtwege nicht übermäßig lang, deshalb ist das Angebot hier deutlich günstiger als im Erzgebirge mit 50€.
Der Straßenraum hat sich im letzten Jahr stark verändert. Es gibt nirgendwo mehr Poller, riesige Verkehrsschilder oder Ampelanlagen mehr. Die intelligente Vernetzung der Fahrzeuge und Bodenampeln für die Fußgänger haben die Verschandelung der Umwelt mit Vekehrsleitfunktion vollkommen abgelöst. Trotzdem gibt es quasi keine Verkehrsunfälle mehr. Auch Falschparken findet nicht mehr statt. Dafür mussten allerdings alle Fahrzeuge vor 2 Jahren mindestens mit Heads-Up-Displays und autonomen Bremsen nachgerüstet werden, wie es etwa zur Jahrtausendwende mit der dritten Rückleuchte der Fall war. 1000€ kostete das die Halter von Fahrzeugen, die ihr Vehikel vor 2019 erworben haben. Viele waren davon nicht betroffen, das Privatauto ist kein beliebtes Modell mehr gewesen.
Die Straßen wurden schon in den 2020ern Schrittweise verengt und mehr begrünt. Es gab schnell mehr Aufenthaltsräume und sogar neue Baugrundstücke in der Innenstadt. Historisch gewachsene Straßenzüge sind kaum mehr aus zu machen. Das Fahrzeug hält am Stoppoint der ehemaligen Zentralhaltestelle und meine Zufallsbegleitung und Ich steigen aus. Wir kannten uns schon von mehreren gemeinsamen Fahrten und verabschieden uns freundlich. Ich hab Sie mit 4 von 5 Punkten in der Sharing-App bewertet. Mit 5 Punkten würde meine Fahrt für eine tolle Begleitung leicht verzögert werden, mit weniger als 3 Punkten ebenfalls, um eine andere Begleitung oder ein freies Fahrzeug zu finden. Mit Menschen mit nur einem Punkt muss ich gar nicht das Fahrzeug teilen. Auf dieser Liste steht momentan nur mein Zahnarzt.
Ich spaziere entspannt in Richtung der Boutique. Die Uhr fragt mich, wann ich gedenke zurück zu fahren. Ich sage ihr, dass es etwa eine Stunde dauern kann.
Das Fahrzeug fährt unterdessen in eine Tiefgarage außerhalb des Stadtringes, wo es per Induktion geladen wird und weiteren Personen zur Verfügung steht. Tankstellen und selbst Ladestationen gibt es keine mehr im öffentlichen Straßenraum. Es gibt auch nur rund 500 autonome Fahrzeuge, die das Stadtzentrum anfahren. Bei Großveranstaltungen können damit potentiell 2500 Menschen autonom und gleichzeitig in die Stadt gefahren werden. Parkhäuser wurden schon vor 5 Jahren Schritt für Schritt zurück gebaut. Dieses Jahr geht ebenso das Kohlekraftwerk in Chemnitz außer Betrieb. Was für ein Segen für das Gewissen und bei der Nutzung der vielen Technik.

In der Innenstadt gibt es so gut wie keine Läden mehr. Alle Geschäfte haben eine Event- und Ausflugs-Charakteristik, sonst können sie sich an diesem Standort nicht halten. IKEA waren unter den Ersten, die dieses Konzept adaptierten. Ich bin nun 42 Jahre alt und werde doch langsam zum Gewohnheitstier, deshalb spricht mich deren Angebot noch immer an. An der Tür treffe ich Piru und noch ein paar andere Freunde, die meinen IKEA-Ausflug über soziale Vernetzung mitbekommen haben. Verspätung ist in den letzten Jahren immer unwahrscheinlicher geworden. Wir gehen gelassen durch die Boutique auf ca. 500 Quadratmetern, das Restaurant nimmt die gleiche Fläche ein. Ich sehe die gesuchte Lampe und halte meine Uhr an den Sensor daneben. Daraufhin kann ich sie virtuell in meinem Wohnzimmer platzieren und bekomme einen noch besseren Eindruck. Nach meiner Bestätigung spricht meine Uhr wieder zu mir: „Die Ware ist im Versandzentrum Neefepark verfügbar und kann per Drone innerhalb von 30 Minuten geliefert werden.“
Ich drücke die Meldung weg und vereinbare einen Liefertermin im Vorabend, wenn ich Zuhause bin. Bezahlt ist die Ware damit bereits.
Nach dem Einkauf geht es ins Restaurant. Die Gespräche arten ein wenig aus und so kommt es, dass ich die Schlummertaste meiner Auto-App dreimal drücken muss, welches die Abfahrt jedes Mal um 10 Minuten verschiebt. Das Sozialisieren ist der wichtigste Grund für den Besuch der Innenstadt.

Als ich wieder am Stoppoint stehe kommt ein anderes Fahrzeug meines Services angefahren und sammelt mich ein. Bei mir Zuhause ging vor 10 Minuten ein Hinweis an, dass ich in ca. 20 Minuten Zuhause bin, da ich die Abfahrt dieses Mal nicht verzögert habe. Das hat schon so manches Mal die Essensplanung erleichtert. Später mache ich mit Freundin und Kindern noch einen Ausflug mit dem geteilten Fahrzeug. Die Family-Option für verschiedene Autodienste ist in der 5-Zimmer-Wohnung bereits im Mietpreis enthalten. Wir machen einen Spaziergang durch das Augustusburg von 1820, dank Augmented Reality. Am Vorabend trifft pünktlich die Drone vor meinem Fenster ein. Im Umfeld der Lampe laden alle meine Geräte wieder voll, ich benötige eine Woche keine Ladung mehr.

Ich hoffe diese Geschichte hat den Lesern gefallen. Die Tankstelle im Bild an der Ecke Annen-/Brauhausstraße ist inzwischen das kleinste Hotel der Stadt. Gestaltet die Zukunft mit und macht euch Gedanken wie beispielsweise ein sinnvoller Datenschutz in dieser Welt gewährleistet werden kann. :)